Tagebuch 7: Premia-Domodossola, Sa 21.8.2010
Der grosse Empfang
Domodossola, 21. August 2010, 9 Uhr: Noch ist es ruhig, die ersten Geschäfte öffnen, die warme Morgensonne sucht ihren Weg den Hauswänden entlang hinunter in die engen Strassenschluchten. Doch die Leute wissen, es wird ein besonderer Tag. «Ganz Domodossola erwartet euch», sagt die Bedienstete im Hotel. Die Swizzeri also, die zu Fuss über die Pässe kommen, mit Pferd und Esel und Sack und Pack, und die Säumergeschichte aufleben lassen. Vergessen ist, dass gerade diese Svizzeri in dieser Säumergeschichte im Domodossola nicht immer so freudig erwartet wurden.
1410 stiessen Urner und Obwaldner Truppen bis Domodossola vor, schlugen in den folgenden sechs Jahren mehrere Aufstände nieder und zerstörten 1416 die Burg Mattarella in der Nähe dieses prosperierenden Handelsortes. Die Freude über den Erwerb des Eschentals währte indes nur kurz. 1422 eroberte der Herzog von Mailand Domodossola und Bellinzona, und 1425 kam es zu dem unseligen Zug von 500 Freiwilligen aus den Waldstätten nach Domodossola. Sie wurden eingekesselt und ein Trüppchen von 35 zur Hilfe eilenden Urnern in Pontemaglio elendiglich aufgerieben. Das ging den Eidgenossen definitiv zu weit. Sie rückten im November 1425 mit einem mehrere tausend Soldaten umfassenden Heer wieder nach Domodossola aus und befreiten die Eingekesselten. Den Rückzug aus dem Eschental liessen sich die Eidgenossen mit Geld und Zollfreiheit entschädigen, was sie aber nicht daran hinderte, 1487 erfolglos und 1512 erfolgreich Domodossola zu besetzen. Erst die fürchterliche Niederlage bei Marignano setzte sämtlichen Eroberungsgelüsten gegen Süden nach gut hundert Jahren ein jähes und definitives Ende.
Vom Zug, der jetzt gegen Domodossola zieht, geht in der Tat keine Kriegsgefahr aus. Die Saumtiere trotten im Leerlauf auf lauschigen, historischen Maultierpfaden und durch museale Dörfer dem Talboden entgegen, und das Fussvolk spürt keine Kampfeslust, sondern in erster Linie die eigenen Füsse. Was viele auf ihren Beinen hält, ist das Gefühl, hier wirklich eine Mission zu erfüllen, die für die Menschen hier im Eschental sehr bedeutungsvoll ist. Der Mix aus Prozession, völkerverbindender Geschichte, Tieren und Käse trifft die Norditaliener offensichtlich mitten ins Herz. Von der Polizei eskortiert findet der Zug seinen Weg zum Hauptplatz. Auf den letzten 500 Meter müssen sich die meisten gefühlt haben wie beim Giro d'Italia, nur diesmal in der Rolle der Radfahrer auf den letzten Metern statt als Zuschauer. Aus den Gesichtern der Säumer spricht Stolz, Berührtheit und Ungläubigkeit über das, was hier abgeht, und manch eine Wanderin oder mancher Wanderer kämpft hinter der Sonnenbrille mit den Tränen. Die Bewunderung der Menschen ist gross, und vor allem: sie ist echt. So echt wie der Auftritt der Trachtenvereinigung Stans, so echt wie die Alphornklänge und die hundertfachen Gratulationen. Geschafft!